Panne reiht sich an Panne, bei der Aufklärung der NSU-Mordserie versagen die Behörden auf ganzer Linie. Dabei steht die Kanzlerin im Wort: Sie hat den Angehörigen der Terroropfer versprochen, alles für die Aufarbeitung zu tun. Tatsächlich ist von einem Willen zu Transparenz nichts zu spüren.
Berlin – Vielleicht muss man einfach noch mal daran erinnern, um was es hier geht: Da tauchen Ende der neunziger Jahre in Thüringen drei junge Hardcore-Neonazis unter, formieren sich zu einem Terrortrio, und ziehen mordend durch die Republik. Sie erschießen mutmaßlich zehn Menschen, verletzten etliche weitere mit einer Nagelbombe. Und bis die Bande im November 2011 durch einen Zufall auffliegt, haben die deutschen Sicherheitsbehörden keinen blassen Schimmer.
Eine Katastrophe also, eine “Schande für Deutschland”, so hat es Angela Merkel genannt. Es gäbe bei den Behörden also reichlich Grund für Demut, reichlich Grund, alles, aber auch wirklich alles dafür zu tun, die Versäumnisse aufzuklären, “damit sich das nie wieder wiederholen kann”, wie es die Kanzlerin den Angehörigen der Opfer versprochen hat. Doch davon kann keine Rede sein.
Ob beim Inlandsgeheimdienst, beim Bundeswehrgeheimdienst oder den Ermittlungsbehörden der Polizei – ständig kommen neue Pannen ans Licht, tauchen wichtige Akten und Dokumente erst nach Monaten oder überhaupt nur durch Zufall oder beharrliche Recherche Dritter auf. “Unsensibel” nennt der sonst so auf Akkuratesse bedachte Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) das. “Solche Vorgänge” würden “kein günstiges Licht auf unsere Sicherheitsbehörden” werfen, sagt Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU). So kann man das sehen.
Man kann aber auch sagen: Die Sicherheitsbehörden haben nicht nur bei der Verfolgung der Mördernazis versagt. Sie versagen auch bei der Aufarbeitung. Es wird gemauert, geschlampt – und womöglich auch gezielt vertuscht. Aufklärungswille? Fehlanzeige.
Wut im Untersuchungsausschuss wächst
Der Ärger ist groß, quer durch die Parteien. “Das Vertrauen in den Rechtsstaat droht angesichts der fortlaufenden Pleiten- und Pannenserie langfristig beschädigt zu werden”, warnt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, der auf die Aktenzulieferungen der Geheimdienste und Ermittlungsbehörden angewiesen ist, wächst die Wut. “Hochgradig verärgert” ist der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) nach den SPIEGEL-ONLINE-Enthüllungen über einen langjährigen V-Mann des Berliner Landeskriminalamts (LKA) aus dem Umfeld des Terrortrios. “Das hat eine neue Qualität”, meint Edathy. Grünen-Obmann Wolfgang Wieland empört sich: “Wir wissen buchstäblich nichts.”
Das aber ist ein Problem für die parlamentarischen Aufklärer. Inzwischen kommen die Abgeordneten kaum noch nach, mehr Kooperation und Transparenz einzufordern. Ein Überblick über die schlimmsten Pannen:
Am Donnerstag wird bekannt, dass einer der mutmaßlichen Helfer des Terrortrios mehr als zehn Jahre als V-Mann für das Berliner LKA arbeitete.Thomas S. soll den NSU-Mördern Ende der neunziger Jahre Sprengstoff besorgt haben. Von 2001 bis 2011 diente er dem LKA als Quelle, offenbar gab er auch Hinweise zum NSU. Die Bundesanwaltschaft erfuhr von der V-Mann-Tätigkeit im März – der Untersuchungsausschuss erst jetzt. Innensenator Henkel verspricht, schnell für Klarheit zu sorgen.
Zwei Tage zuvor kommt heraus, dass der Militärische Abschirmdienst (MAD) in den neunziger Jahren eine Akte über den späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos anlegte. Offenbar versuchte der Dienst sogar, Mundlos wegen seiner rechtsextremen Gesinnung als Quelle anzuwerben. Den Untersuchungsausschuss informierte der MAD nicht, auch das Verteidigungsministerium, das im März von der Akte erfuhr, gibt die Info nicht weiter. Verteidigungsminister de Maizière entschuldigt sich für die Panne. Der Chef des Landesverfassungsschutzes von Sachsen-Anhalt tritt zurück, weil seine Behörde zunächst erklärt, keine Kopie der MAD-Akte über Mundlos mehr zu besitzen, die sie 1995 bekommen hatte. Wenig später muss der Dienst einräumen: Die Akte liegt doch noch im Archiv.
Ende Juni räumt das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ein, dass noch nach dem Auffliegen der NSU im November 2011 zahlreiche Akten mit Bezug zur Mörderbande gelöscht oder geschreddert wurden. Es geht vor allem um Dokumente zum rechtsextremen “Thüringer Heimatschutz”, dem Ende der Neunziger auch die Mitglieder der späteren Terrorzelle angehörten. Erst Anfang Juli stoppt der Dienst bis auf weiteres jede weitere Vernichtung von Akten aus dem rechtsextremen Milieu. BfV-Präsident Heinz Fromm tritt zurück, auch der Chef des Thüringer Amtes muss gehen. Sachsens Verfassungsschutzchef wirft hin, weil in seiner Behörde nur rein zufällig relevante Akten gefunden werden.
Löschaktionen, Zufallsfunde, Desinformation – mit jeder Panne wird deutlicher, wie dringend die deutschen Geheimdienste einer Reform bedürfen. Im Gestrüpp der föderalen Zuständigkeiten scheint niemand mehr den Überblick zu haben, wer sich mit wem absprechen sollte, wer welche Akten besitzt oder besitzen sollte, wo Kopien lagern oder längst vernichtet wurden.
Merkel steht im Wort
Die vergangenen Monate hätten eindrucksvoll bewiesen, “dass die deutsche Sicherheitsarchitektur grundlegend überarbeitet gehört”, sagt Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger und fordert “eine Straffung des föderal organisierten Verfassungsschutzes”. Wenn es nach der FDP-Politikerin ginge, würden die derzeit 16 Landesämter zumindest teilweise zusammengelegt.
Das allerdings wird nicht funktionieren. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) scheiterte vor wenigen Wochen vorerst mit dem Versuch, das Bundesamt gegenüber den Landesämtern in seinen Kompetenzen deutlich zu stärken. Statt aufrichtiger Reformbereitschaft herrscht Missgunst und Sorge vor Bedeutungsverlust. Auch die lauter werdenden Rufe nach einer Abschaffung des Bundeswehrgeheimdienstes MAD verhallen ungehört. Er soll im Zuge der Bundeswehrreform lediglich “personell verschlankt” und organisatorisch umgestellt werden. Ob der große Umbau der Sicherheitsbehörden hin zu mehr Schlagkräftigkeit und Effizienz so wirklich gelingt, ist ungewiss – auch wenn jede neue Panne zusätzlicher Ansporn sein sollte.
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14. September 2012, 18:20 Uhr
Von Philipp Wittrock
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