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  • Ausbruch – Sonderausgabe: Die R.O.S. sind entblööt

    wie ein italienisches SEK eine Anklage konstruiert

    Original-Titel: Il ROS e’ Nudo – Come si fabbrica un’inchiesta giudiziaria

    Ga direct naar de ROS-documenten Übersetzung: Solidaritätskomitee Italien

    GRENZEN UND PERSPEKTIVEN EINER ANTI-ANARCHISTISCHEN REPRESSION

    WIE EINE JURISTISCHE ERMITTLUNG KONSTRUIERT WIRD

    WIE MAN SICH EINE KONSTRUIERTE KRONZEUGIN BESORGT UND DIESE INSTRUIERT

    WIE ES ZU EINER PROZEßFüHRUNG KOMMT

    Dir LeserIn, die Du Dir die Mühe gemacht hast, Dir diese Publikation zu besorgen, um diese Seiten zu lesen – wir werden Dein Interesse und Deine Neugier befriedigen. Das, was Du nun lesen wirst, wird Dich für lange Zeit nicht mehr loslassen. Es wird Deinen Schlaf stören, wie es schon den Schlaf vieler anderer gestört hat. Du mußt wissen, daß die italienische Staatsanwaltschaft aus Rom die Verbreitung dieses “internen Amtsberichtes” verboten hat, wir sie aber dennoch veröffentlichen. Seine Verfasser – die Carabinieri – haben ihre Autorenschaft verleugnet. Ihre Verantwortung ist jedoch offensichtlich, und ihre Wut, bloßgestellt worden zu sein, so stark, daß sie sich entschlossen haben, diejenigen zu bestrafen, die den Mut hatten, als erste darüber zu berichten.

    Der König erzürnte sich über das Kind, welches als erstes auf seine beschämende Nacktheit deutete. Das Kind, um welches es sich handelt, ist Radio Black Out, ein freies Radio aus Turin, dem im Juli 1997 dieser “Amtsbericht” der ROS, einer Sondereinheit der Carabinieri (1) aus Rom, zugeschickt wurde. Darin wird in Einzelheiten dargestellt, warum die juristischen Ermittlungen gegen Dutzende AnarchistInnen, dank der Nutzung einer konstruierten Kronzeugin der Justiz, eingeleitet wurden – Ermittlungen, die liefen, als dieser Bericht auftauchte; im Zuge derer gerade Haftprüfungstermine anstanden, als der Bericht veröffentlicht wurde. Es handelt sich dabei aber nicht, wie man vielleicht denken könnte, um eine nachträgliche Zusammenfassung. Der Bericht datiert vom Dezember 1994. Es handelt sich dabei um die Planung des juristischen Vorgehens. Kurz gefaßt wurde dieser Angriff gegen AnarchistInnen bereits vor drei Jahren von den Carabinieri der ROS in Rom am Tisch studiert, vorausgeplant und entschieden. Diese Seiten des Dokuments, die wir hier veröffentlichen (2), beweisen das und bestätigen im Nachhinein auf eine aufsehenerregende Weise das, was die AnarchistInnen bereits in den letzten beiden Jahren auf Plakaten und Flugblättern, in Zeitungen und öffentlichen Veranstaltungen kundtun und anklagen. Kaum hatten sie die Bedeutung dieser Akten festgestellt, haben die RedakteurInnen des Turiner Radios es veröffentlicht, nicht ohne – wie es das Gesetz verlangt – der Polizei eine Kopie zu übergeben. Sie übergaben es auch den Anwälten der AnarchistInnen, die sich zu dieser Zeit in den Verhandlungen über die Haftprüfungen befanden. Einmal im Gericht vorgelegt, schlug dieses Dokument wie eine Bombe ein. Ein für die Haftprüfung zuständiger Richter, dem die ganze Angelegenheit sehr peinlich war, zog sich zu Beratungen mit dem ermittelnden Staatsanwalt zurück, um dann zu entscheiden, dieses Dokument nicht zu beachten, da es sich um einen ziemlich “schlecht gemachten Versuch” handele, den Prozeß vertagen zu lassen. Die Verteidigung der AnarchistInnen berief daraufhin eine Pressekonferenz im römischen Gericht ein: Nur zwei Journalisten besaßen den Mut, dort zu erscheinen. Obwohl ihnen die Schwere des Vorfalls bewußt war, antworteten andere dazu eingeladene JournalistInnen darauf, daß sie an der Angelegenheit nicht interessiert seien, da AnarchistInnen “keine Schlagzeilen machen würden”, also damit kein größerer Absatz ihrer Zeitungen zu erreichen sei. In den folgenden Tagen durchsuchten die Carabinieri gleich zweimal die Räume von Radio Black Out auf der Suche nach Beweismaterial, welches die These der Fälschung des Dokuments – als einzige Rettung für die Carabinieri und die römische Staatsanwaltschaft – bestätigen könnte. Diese These jedoch – das Dokument sei gefälscht – hält nicht und überzeugt auch keinen. Bewerten wir doch die Fakten gemeinsam: der im Gerichtssaal anwesende Staatsanwalt hat, als die Verteidigung das Dokument der ROS vorlegten, als erstes das Delikt der “Verletzung des Amtsgeheimnisses” vorausgesetzt. Das bedeutet, daß er die Echtheit der Akten ausdrücklich anerkannte. Ein Filmriß? Fahren wir fort: Das Dokument beinhaltet zahlreiche Fakten und Bezüge zu alten Polizeiberichten, die sich als wahr herausstellten. Genauso wie die Namen der Carabinieri, die es verfaßten. Diese Leute existieren tatsächlich. Mehr noch: was auch übereinstimmt, sind die Dienstgrade dieser Carabinieri vom Dezember 1994, die sich mittlerweile änderten, denn ihnen wurde eine Karriere zu Lasten der AnarchistInnen zugesichert. Der Sprachstil ist typisch für diese Herrschaften, und die Länge des Textes macht eine Imitation sehr schwierig. Bedeutungsvoll auch die Reaktion des haftprüfenden Richters und seines Staatsanwalts auf das plötzliche Auftauchen des Dokuments. Anstatt sofort die Beschlagnahme aller Akten der betreffenden Carabinieri anzuordnen – nichts, was jemanden schrecken sollte, wenn diese tatsächlich nichts mit dieser Angelegenheit zu tun hätten – zog der Richter vor, sich erst mal Zeit zu lassen, um dann die Ermittlungen irgendwelchen Polizeiorganen zu überlassen. Die darauffolgenden Hausdurchsuchungen des privaten Radios in Turin, von den ROS selbst durchgeführt, zeigen deutlich, daß dieses Spiel mit gezinkten Karten gespielt wird. Der römische Richterstand hat die Ermittlungen bzgl. des Dokuments dessen Autoren persönlich aufgetragen. Noch viel unfaßbarer ist jedoch die Tatsache, daß einer der Verfasser des vertraulichen Berichtes beide Hausdurchsuchungen leitete. Der unserer Ansicht nach wichtigste Beweis für die Echtheit des Dokuments ist jedoch ein anderer: das Datum des Versands. Schauen wir, warum: Die “Informative Anmerkung” (italienisches Original) über die AnarchistInnen traf bei Radio Black Out am 10. Juli 1997 ein. Genau zwei Tage vorher gab es in den bürgerlichen Tageszeitung eine Meldung über einen Skandal, der die “Abteilung Schmutzige Operationen” (Italienisches Wortspiel – Reparti Operazioni Sporche = ROS – A.d.T) aus Genua betraf: ein Reuiger hatte den Sack geöffnet, und Oberst Michele Riccio, Leiter der ROS dieser Stadt, und weitere Unteroffiziere wurden verhaftet. Sie wurden angeklagt, Beweismittel gefälscht, Ermittlungen erfunden und Reuige manipuliert zu haben. Wer ist Michele Riccio? Er war der Chef der DIA (Department Anti-Mafia) aus Genua und erhielt die silberne Medaille des Militärs als Dank für seine “anti-terroristischen Aktivitäten” (er leitete die Truppe, die in Via Fano Militante der Roten Brigaden mit Kugeln durchlöcherte.) Wichtiger aber ist, daß er die rechte Hand des Generals Della Chiesa war, dessen berüchtigte “Truppe” es nicht so genau mit den Vorgangsweisen nahm, um ein paar Ergebnisse zu erzielen. Im Laufe der Ermittlungen bzgl. der ROS in Genua taucht in einem Dossier ein Brief auf, der am 21. März 1997 von einem anonymen Carabinieri u.a. an den Consiglio Superiore der Richterschaft, an die Staatsanwaltschaft von Genua und an das Generalkommando der Carabinieri geschickt wurde und geheimgehalten worden war. Der unbekannte Carabinieri legte die Methoden dar, die von den Unteroffizieren der ROS in Genua benutzt wurden, was der Leitung der Armee und einigen Richtern bekannt war, aber von ihnen immer verschwiegen wurde. Er fügte noch hinzu, daß diese Methoden auch in der Gegenwart noch in verschiedenen Abteilungen der Carabiniere angewandt werden. Da dieser Anklagebrief bewußt geheimgehalten wurde, kam der Skandal erst dann zum Ausbruch, als dazu noch die Aussagen eines “pentito” hinzukamen. Ist es also verwunderlich, daß der anonyme Absender des Dokumentes, welches wir veröffentlichen, sich dazu entschieden hat, es einem “freien” Radio zu senden? Und wir können uns die Frage nicht verkneifen, wieviel anderen Adressaten er es noch hat zukommen lassen. Als sie von einigen Journalisten gefragt wurden, was es denn mit dem Fall Riccio auf sich hat, antworteten Offiziere der Carabinieri/ROS mit den folgenden, erleuchtenden Worten: “Ab und zu existiert bei den Richtern, vor allem aber bei der “Polizia giudiziaria” ein Vorgehen, das die Regeln verletzt, da man jemanden erwischen möchte, der stört, aber nicht die Geduld besitzt, Beweise abzuwarten, die den Verdacht bestätigen.” Nun gut, jetzt sind die Methoden deutlich, die von den ROS benutzt werden, um “Reuige” zu verwalten. Mit Fälschungen der Protokolle von Beschlagnahmungen, Beweismitteln und der Dienstberichte, mit der Konstruktion der nötigen Beweise, um jemanden zu erwischen, der eben “stört”. Jetzt kann niemand mehr so tun, als wüßte er nichts davon, wie Zeugen und “pentiti” aufgebaut werden, um sich juristische Ermittlungen zurechtzuzimmern. Wenn man das festgestellt hat, ist es aber nicht richtig, den ganzen Dreck auf einen der Amtsinhaber abzuwälzen. Es ist falsch, von der “Methode Riccio” zu sprechen, denn wir wissen nun, daß es sich um die Methode der ROS, DIA usw. handelt. Die verzweifelten Versuche des Colonel Mario Mori, Chef der ROS, die Aufmerksamkeit nur auf die Stadt Genua zu lenken, denn die Ermittlungsmethoden seines Untergebenen “gehörten auf keinen Fall zu denen der ROS”, werden auch mit dem Dokument, welches wir vorstellen, vereitelt. Kehren wir zur Frage der “Fälschung” zurück. Erscheint es plausibel, daß irgendeiner der Rechtsanwälte oder der “sympathisierenden” Journalisten, der Angeklagten oder deren FreundInnen, den Skandal um den Fall Riccio nutzend, in der Lage gewesen wäre, innerhalb weniger Stunden oder maximal zweier Tage solch ein Dokument herzustellen? Daß es jemanden gegeben hätte, der sich die notwendigen Informationen aus der sehr genauen Lektüre der 80.000 Seiten Ermittlungsakten besorgt hätte, und das Dokument dann in dieser Geschwindigkeit und Genauigkeit hätte ausarbeiten können? Die Antwort kann nichts anderes als negativ sein. Es scheint uns, als könnten wir mit aller Sicherheit behaupten, daß selbst ein Carabiniere der ROS, mit allen Möglichkeiten, die ihm diese Rolle eröffnet, einen solchen Akt nicht allein verwirklichen könne. Es bleibt nur eine einzige ernstzunehmende Möglichkeit: das Dokument der ROS ist authentisch. Irgendein Carabiniere hat dieses Dokument in der Folge des Skandals in Genua, dessen Auswirkungen bis Rom reichten, Radio Black Out und wahrscheinlich auch anderen Informationsstrukturen zukommen lassen. Wir ignorieren die Gründe, aus denen er das gemacht hat. Wir ignorieren, ob er einen Krieg innerhalb der ROS auslösen will, ob er Colonel Mori demontieren will, oder ob er aus der Überzeugung handelte, daß die repressiven Strukturen demokratischen Regeln zu folgen haben. Gerade heraus: es interessiert uns auch nicht. Was uns interessiert ist, daß niemand mehr so tun kann, als wüßte er nicht, warum Dutzende AnarchistInnen einem Prozeß ausgeliefert sind und teilweise noch in Untersuchungshaft sitzen. Eine Geschichte, die von vielen vernachlässigt wird, an die wir erinnern möchten. Dienstag, 17. September 1996

    Es ist früh am Morgen. Hunderte schwerbewaffnete Carabinieri der ROS stürmen die Wohnungen von etwa 70 AnarchistInnen in ganz Italien. Dabei handelt es sich um den spektakulären Ausgangspunkt der zweiten Phase einer juristischen Operation, die offiziell am 16. November 1995 mit der Eröffnung einer Ermittlung gegen 68 Personen begann. Auf Antrag zweier bevollmächtigter Staatsanwälte unterschreibt der Ermittlungsrichter Claudio D’Angelo die Haftbefehle gegen 29 AnarchistInnen, die “der Teilnahme an einer bewaffneten Bande und subversiver Vereinigung und Waffen- und Sprengstoffbesitz” (vergleichbar den deutschen §§ 129/129a) beschuldigt werden. Einige Stunden später zeigt der Staatsanwalt Marini auf einer Pressekonferenz die Ergebnisse vor: Die “bewaffnete Bande” hat den exotischen Namen “ORAI” (organizzazione rivoluzionaria anarchica insurrezionalista), den niemand jemals zuvor gehört hatte. Das Phantom einer Organisation, die sich niemals zu irgend etwas bekannt hat. Diese “Bande” habe sich durch Überfälle finanziert und in Zusammenarbeit mit “normalen” Kriminellen Entführungen organisiert. Das Geld habe der Veröffentlichung einiger anarchistischer Zeitungen (Anarchismo, ProvocAzione, Gas, Canenero) gedient. Um von vornherein jeden Zweifel auszuschließen, hielt Marini es nötig, darauf hinzuweisen, daß es sich nicht um einen “Angriff auf die Ideen” handele: “In einer echten Demokratie kann jeder die Meinung sagen, die er will. Auch die Anarchisten können, wenn sie ihre Politik auf ehrliche Weise betreiben, einen Beitrag zu einer Macht leisten, die die individuellen Rechte respektiert.” Desweiteren sind viele Anarchisten in Italien und der ganzen Welt ehrliche Personen – diese aber nicht. Diese sind nichts anderes als gewöhnliche Kriminelle, mit einer unerklärlichen Tendenz zum Sturz der demokratischen Ordnung. Wie alle respektablen “Banden” muß diese auch einen Anführer haben: angeblich Alfredo Bonanno, ein sehr bekannter Anarchist. Die Presse jeglicher Couleur entstaubt das Vokabular der 70er Jahre, um das Spektrum des “Terrorismus” wieder auferstehen zu lassen. Das Warum und Wie einer juristischen Ermittlung

    Es gibt viele Gründe, die die Aktivitäten der römischen Administratur rechtfertigen, und wer sie wissen möchte, muß nur die folgenden Seiten lesen. Allerdings benötigten diese Gründe, die seit vielen Jahren die Hirne einiger unserer Staatsanwälte verärgern, einen konkreten Anlaß, um ans Tageslicht zu gelangen.

    Am 9. September 1994 wurden fünf AnarchistInnen in Serravalle di Trento wegen eines Banküberfalls verhaftet. Eine davon wird in erster Instanz freigesprochen. Alle anderen werden jedoch neun Monate später in der Berufungsinstanz zu drei Jahren und vier Monaten bzw. zu vier Monaten verurteilt. Bereits von Beginn an gab es eine ziemlich starke Solidarität mit den Verhafteten, die sich in unterschiedlichsten Initiativen in ganz Italien ausdrückte.

    Aber einem alten, der Richterschaft wohlbekannten Drehbuch folgend versuchte der Richter Carlo Ancona schon seit April 1995, den vier Gefangenen zwei weitere Banküberfälle anzuhängen, die in dieser Gegend durchgeführt worden sind, die dafür Verantwortlichen aber nie gefaßt wurden. Der Prozeß bzgl. dieser neuen Fakten wird für den darauffolgenden 13. Oktober (1995) in Trient angesetzt. Die Verhandlungen werden unverständlicherweise bis zu dem Tag hinausgezögert, an dem die Razzien und Hausdurchsuchungen in ganz Italien stattfinden und die Ermittlungen von Marini ans Licht kommen. Als am 9. Januar 1996 der Prozeß in Trient wiederaufgenommen wird, verkündet der Staatsanwalt Bruno Giardina, daß Mojdeh Namsetchi, die Ex-Freundin eines der verhafteten AnarchistInnen, sein einigen Monaten mit der Staatsanwaltschaft in Rom und Trient kooperiere. In der Verhandlung vom 16. Januar sagt die Jugendliche – die weder jemals Anarchistin gewesen war noch an irgendwelchen Veranstaltungen der Bewegung teilgenommen hatte – aus, sie selbst habe die Banküberfälle gemeinsam mit den Angeklagten und drei weiteren AnarchistInnen durchgeführt. Ihre Erinnerungslücken bei der Beschreibung der Fakten offenbaren die Lüge. Diese Jugendliche erinnert sich an gar nichts von dem, was an dem Tag in und außerhalb der Bank passierte: sie erinnert sich nicht, welche Kleidung die Räuber trugen; sie erinnert sich nicht, wie die Bank hieß; sie erinnert sich nicht, ob ihr die Pistole aus der Hand gefallen ist und ob ein Schuß los ging; sie erinnert sich nicht, ob und wann sie aus dem Zug gestiegen ist. Das einzige, woran sie sich gut erinnert, sind die Namen derer, die an diesem Überfall teilgenommen hätten, und eher schlecht als recht weiß sie, mit welchem Auto sie flüchteten, einem Auto, in das sie angeblich zu sechst eingestiegen waren. Das reicht dem Gericht in Trient, um die Angeklagten zu verurteilen. Nach der Urteilsverkündung wird Mojdeh Namsetchi in allen Aspekten zu einer “glaubwürdigen” Kronzeugin der Justiz, und die Prokura in Rom hat freie Fahrt für ihre Ermittlungen.

    Wenn sie uns aber nun darüber informierten, daß Mojdeh Namsetchi schon einige Monate vor dem Prozeß begann, mit der Magistratur zu kooperieren: warum wurden ihre Aussagen dann erst ein Jahr später genutzt? Der einzige Grund dafür ist, daß die Magistratur Zeit brauchte, um ihre Theorien der Anklage besser konstruieren zu können. Nachdem die Generalprobe in Trient mehr schlecht als recht über die Bühne ging, ist die falsche Reuige bereit zum großen Auftritt in Rom. Obwohl keine neuen Fakten auftauchten, wurden durch ihre “Offenbarungen” neue Festnahmen ermöglicht. Und was für Offenbarungen! Entführungen von Personen, die an Orten geplant wurden, wo Hinz und Kunz vorbei kamen; Morde, die auf öffentlichen Plena diskutiert wurden, und das mit den Namen derjenigen, die diese durchgeführt hätten; Sachen, die das Delirium erreichen. Durch die Urteile in Trient wurde eine Glaubwürdigkeit (für die falsche Zeugin) konstatiert, die es möglich machte, zur Konstruktion einer Organisation überzugehen, in der Mojdeh Namsetchi angeblich Mitglied gewesen sei. Wie könnte man besser eine These von einer nicht existenten “bewaffneten Bande” aufstellen als mittels einer Person, die daran beteiligt gewesen sein soll? In der Zwischenzeit wurden in der Revision alle Urteile eines Prozesses annulliert (es handelt sich dabei um den Prozeß um den Entführungsfall Mirella Silocchi, in dem einige AnarchistInnen verurteilt worden waren) und ein Teil des Prozesses in Trient, zumindest eine der Angeklagten betreffend. Aber für die Richter behält die Kronzeugin Namsetchi noch immer ihre Glaubwürdigkeit. Die Gründe dafür

    Einerseits erschrickt die Macht vor der Tatsache, daß es Frauen und Männer gibt, die trotz der sozialen Vereisung und der scheinbaren Kritiklosigkeit Staat und Kapital gegenüber weiterhin davon sprechen, daß der Aufstand ein möglicher Ausgangspunkt einer Revolution sein kann, um der Tyrannei der Autoritäten ein Ende zu setzen; andererseits erschrickt der Staat vor all den anonymen Menschen, die tausende Aktionen gegen Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen durchgeführt haben.

    Das Problem ist offensichtlich: dem Staat gelingt es nicht, diejenigen zu finden, die in der Vergangenheit solche Aktionen durchgeführt haben; genausowenig wie es ihm gelingt, die für den Anschlag gegen den Palazzo Marino in Mailand vom 25. April Verantwortlichen zu finden. Genauso schwer wird es ihm fallen, die zu finden, die zukünftig Angriffsaktionen gegen ihn durchführen werden. Umgekehrt kennt er aber jene, die solche Aktionen öffentlich unterstützen. In seinem Unvermögen, solche Aktionen zu stoppen, bleibt ihm nichts anderes übrig als zu versuchen, die Idee zu blockieren, in der vergeblichen Hoffnung, damit solche Aktionen zu beenden. Aber die Ideologie der Demokratie, die Musik, die die Untergebenen in den Schlaf wiegt, basiert auf dem Versprechen, daß man frei ist, jede Idee auszudrücken, sei es auch die extremste. Die Demokratie will damit angeben und proklamiert, daß man eine Idee nicht unterdrücken darf. Wie also dieses Hindernis umgehen ohne dabei die Lügen deutlich zu machen, die die demokratische Ideologie nährt?

    Das ist schnell erklärt: Die Autoritäten des Staates erfinden eine militärähnliche Struktur, basierend auf zwei Ebenen – eine, öffentlich und legal, der zahlreiche bekannte AnarchistInnen angehören, die z.B. publizistisch tätig ist. die andere, verborgen und illegal, der alle schon aus anderen Gründen festgenommenen AnarchistInnen angehören – der man diejenigen Akte von Revolte zuschreiben kann, die wegen ihrer einfachen Mittel von jeder und jedem durchgeführt werden könnten. Auf diese Weise trifft man gleich zweimal: einerseits die bereits inhaftierten AnarchistInnen, indem man sie beschuldigt, diese Aktionen durchgeführt zu haben, andererseits kann man damit diejenigen unterdrücken, die nach Ansicht des Staates als offizielle Verbreiter der Ideen auftreten. Das erklärt auch die Eile, mit der Staatsanwalt Marini meinte erklären zu müssen, daß es sich nicht um einen Prozeß der Ideen wegen handele, worum es sich aber tatsächlich handelt. Das einzige, was die von den Ermittlungen betroffenen AnarchistInnen verbindet, ist die anarchistische Idee und eben nicht die Militanz einer speziellen bewaffneten Organisation, die nie existierte. Auch wenn es heutzutage keine subversiven Ausdrücke gibt, die tatsächlich in der Lage sind, an der herrschenden Ordnung zu rütteln, fürchtet die Macht dennoch die kleinen Zeichen von Unzufriedenheit, die man nicht ignorieren kann, und die in ein aufständisches Projekt münden könnten (oder umgekehrt). Was ist also effektiver als die Erfindung einer “bewaffneten Bande”?

    Damit erreicht man gleichzeitig:

    • die Möglichkeit, zahlreiche AnarchistInnen über Jahre hinweg zum Schweigen zu bringen, auch ohne spezifische Anklagen gegen sie, was man mit den durchaus zahlreichen Prozessen wegen Aufruf bzw. Rechtfertigung von Straftaten, Hausbesetzungen usw. nicht hätte erreichen können;
    • die Kriminalisierung derer, die sich mit den gefangenen GenossInnen solidarisieren, die keinen festen Arbeitsplatz nachweisen können, die sich in nicht legalisierten Besetzungen aufhalten – kurzum all derer, die aus der Hörigkeit keine Tugend machen;
    • den Beweis, daß sich auch die GegnerInnen der Autorität auf autoritäre Art organisieren, was zugleich auch bedeuten würde, daß es keinen Weg gibt, Kontrolle und Untergebenheit zu entgehen;
    • die Gelegenheit, die Illusion aufzufrischen, daß es als Gegensatz zu einem erbärmlichen Überleben, der Erwartungshaltung, der Resignation und der Bevollmächtigung gegenüber der Macht nichts anderes gibt als die bewaffnete Organisation – eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Nachdem das Spektakel der kämpfenden Parteien(3) auf erbärmliche Weise aufgearbeitet wurde, wird nun jeder aufständische Diskurs disqualifiziert;
    • die Bestätigung, daß Rebellierende die letzten Gespenster der revolutionären Ideologie darstellen;
    • die Einschüchterung all derer, die es immer noch, im subversiven Sinne, juckt; sie sollen präventiv darauf aufmerksam gemacht werden, was einem zustoßen kann, wenn man damit fortfährt, die Macht zu kritisieren.

    Das sind die Gründe, warum sich die Herrschaft als unendlich darstellt. Die Demokratie ist die Freiheit. Eine Revolte gegen die Freiheit ist undenkbar, folglich existiert sie nicht. Alle soll glauben gemacht werden, daß gegen die demokratische Gegenwart nichts gemacht werden kann. Und wenn, dann ist es das Werk von “TerroristInnen”, also von Un-Menschen, deren Gründe eh nicht ernst zu nehmen sind. Den Ausgebeuteten, die sich nicht in die Truppe einer spezifischen bewaffneten Organisation einreihen wollen, bleibt in dieser Logik nichts anderes als der legal anerkannte Protest – das, was die Macht empfiehlt. Entweder Reformismus oder Gemetzel. Das Ergebnis dieser totalitären Logik ist die Unmöglichkeit jeder Veränderung. Der Kreis schließt sich

    Am 20. Oktober 1997 wurde in Rom, im Gerichtsbunker von Rebibbia, die erste Verhandlung im Prozeß gegen etwa 60 Personen, die wegen “bewaffneter Bande” und “subversiver Vereinigung” angeklagt sind, abgehalten. (A.d.Ü. die Verhandlung wurde dann auf den 1. Dezember vertagt.) Viele der Angeklagten sind AnarchistInnen, erklärte Feinde jeglicher Autorität. Dieser Angelegenheit, die sich wie gesagt bereits über einige Jahre hinzieht, haben die nationalen Medien wenig Aufmerksamkeit gewidmet, und das auch nur, nachdem sie von den Inquisitoren dazu auf ihre Art und Weise “eingeladen” wurden. Seltsam, könnte man da denken: bis vor einigen Jahren füllten solche Prozesse ganze Titelseiten. Es waren jedoch andere Zeiten, voller sozialen Fermentierung. Der Staat besaß wenig Zustimmung und brauchte den “Kampf gegen den Terrorismus”, um einen Teil seines verlorengegangenen Prestiges zurückzugewinnen. Schnell rückte dann der Kampf gegen “Drogen” und “Mafia” nach: viele imaginäre Drachen, die extra dafür geschaffen wurden, um den Rittern des Staates den Sieg über sie zu ermöglichen – in der Absicht, die Zuneigung des Volkes zu erhalten.

    Heute ist der Konsens um den Staat solide. Nichts scheint ihn treffen zu können. Die Hände derer, die uns regieren, mögen wohl auch nicht ganz sauber sein – sie sind aber frei, das Existierende ihren Wünschen und Vorstellungen entsprechend verwalten zu können. Aus diesem Grund hält man besser geheim, daß es auch kurz vor der Tür des Jahres 2000 noch ein paar Unvernünftige gibt, die den Wunsch der Zerstörung jeglicher Macht weiterhin pflegen.

    Vor zwanzig Jahren war die beste Art, die Idee einer sozialen Revolution zu bannen, einfach die, soviel wie möglich darüber zu reden, sie in einem Meer von Geschwätz zu ertränken. Heute wird dieses Vorgehen umgedreht: niemand darf diesen Begriff erwähnen, niemand sich dafür interessieren. Und sollte es dennoch ein paar Leute geben, die von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer globalen sozialen Veränderung überzeugt sind, sperrt man diese besser hinter Schloß und Riegel. Aber bitte mit Diskretion, schließlich leben wir in einer Demokratie!

    Anmerkungen:

      1. Die Carabinieri sind Bestandteil des italienischen Militärs und auch für die öffentliche Ordnung zuständig. Die Polizei ist im Gegensatz dazu vom Militär unabhängig. Ihre Aufgabe ist nur die öffentliche Ordnung zu wahren.

     

      1. Soweit es uns gelingt versuchen wir, den italienischen und deutschen Begriffen treu zu bleiben, was wegen der unterschiedlichen Gesetzgebung nicht einfahc ist. Auf Nachfrage stellen wir aber das italienische Original jederzeit zur Verfügung. Wir weisen daher explizit auf darauf hin, daß die juristischen Begriffe im Gesamttext nicht hundertprozentig exakt sein müssen, und das wir versucht haben, dem Textsinn und seiner Logik treu zu bleiben.

     

      1. Die sogenannte Aufarbeitung der Geschichte der 70er Jahre ist in Italien schon seit mehreren Jahren im Gange und ührte dazu, die Gefangenen z.B. der (Ex) Roten Brigaden in “Gute” und “Böse” aufzuteilen.

    PolitikerInnen, KünstlerInnen, Medien unterstützen die Forderung der Amnestie für politische Gefangene, da sie somit ein “dunkles” Kapitel der italienischen Geschichte abschließen könnten.
    Weiterhin bleiben einige Gefangene übrig, die jeglichen Handel mit dem Staat verweigern (daher auch die Forderung einer Amnestie, da diese ja vom Staat anerkannt und befürwortet werden muß). Diese Gefangenen unterliegen besonders harten harten Haftbedingungen und Einschränkungen.
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